8. November 2013
(o-ton) Gibt es noch eine Zielgruppe für öffentlich geförderte Beschäftigung? Wenn ja, wer sind diese am Arbeitsmarkt nahezu chancenlosen Menschen und wie viele? Wissenschaftler des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) sind dieser Fragen nachgegangen. Sie haben den potentiellen Personenkreis definiert und seine Größe auf Basis des Panels Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) berechnet. Das Ergebnis: Mehr als 435.000 Menschen in Deutschland sind so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf einen regulären Arbeitsplatz gegen Null gehen. Gleichzeitig zeigen diese Menschen eine hohe Arbeitsmotivation und fühlen sich zunehmend gesellschaftlich ausgegrenzt. Zusammen mit ihnen leben mehr als 300.000 Kinder, die von der Situation ihrer Eltern betroffen sind.
Bei einer anhaltend niedrigen Arbeitslosenquote und einer steigenden Zahl Erwerbstätiger hat die Politik die Förderung von (Langzeit-)Arbeitslosen in den letzten Jahren zunehmend reduziert. Wohlfahrtsverbände und die bisherigen Oppositionsparteien kritisieren bereits seit längerem, dass das zu kurz gedacht ist, denn nicht bei allen kommt der Aufschwung an. Je mehr sich die Arbeitslosigkeit abbaut, desto deutlicher wird: Es bleibt ein Kreis von Arbeitslosen, die so „arbeitsmarktfern“ sind, dass sie, zumindest kurzfristig, kaum Perspektiven auf einen regulären Arbeitsplatz haben (O-Ton berichtete). Bei diesen Personen können öffentlich geförderte Arbeitsplätze helfen, erste Schritte in Richtung reguläre Arbeitsverhältnisse zu machen und gesellschaftliche Ausgrenzung zu überwinden.
Doch wie groß ist der Personenkreis der Arbeitsmarktfernen überhaupt und was bedeutet „arbeitsmarkfern“? Bei unterschiedlichen Definitionen reichten die Schätzungen bisher von etwa 50.000 (Bundesagentur für Arbeit 2013) bis zu rund einer Million Menschen (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege u.a. 2013). Aktuelle und statistisch verlässliche Zahlen lagen allerdings nicht vor. Diese Lücke schließt nun eine Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz.
Unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Sell haben Tim Obermeier und Birte Tiedemann den Personenkreis der arbeitsmarktfernen Menschen definiert und statistisch repräsentativ berechnet. Grundlage ist das jährlich durchgeführte Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), für das mehr als 15.000 Personen in 10.000 Haushalten befragt werden. Das Ergebnis: Über 435.000 Menschen in Deutschland gelten als arbeitsmarktfern und können damit zur Zielgruppe für öffentlich geförderte Beschäftigung gezählt werden.
Kaum Chancen am Arbeitsmarkt: Wann ist ein Arbeitsloser arbeitsmarktfern?
Arbeitsmarktferne Menschen mit extrem geringen Chancen am Arbeitsmarkt definieren die Wissenschaftler dabei als Arbeitslosengeld II-Bezieher im Alter zwischen 26 und 60 Jahren, die zum Befragungszeitpunkt und auch in den vorherigen drei Jahren überwiegend (mehr als 90 Prozent der Zeit) nicht gearbeitet haben. Haben diese Personen zusätzlich noch mindestens vier so genannte „Vermittlungshemmnisse“, die den Zugang zum Arbeitsmarkt vor allem, wenn sie gehäuft auftreten, massiv erschweren können, zählen sie zu der Zielgruppe.
Neun der statistisch erfassbaren Vermittlungshemmnisse legen Obermeier und Tiedemann fest: Ein Alter über 50 Jahre, alleinerziehend zu sein, Angehörige zu pflegen, Migrationshintergrund, geringe Deutschkenntnisse, ein fehlender Schul- und/oder Ausbildungsabschluss, schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen sowie Langzeitarbeitslosigkeit im Sinne eines durchgängigen Bezuges von Arbeitslosengeld II seit mindestens 12 Monaten. Die betrachteten Personen haben durchschnittlich 2,6 Hemmnisse. Fast 50 Prozent der untersuchten Personen haben zwei oder drei Hemmnisse, mehr als ein Fünftel mindestens vier der untersuchten neun Hemmnisse.
Diese Eingrenzung sei allerdings sehr restriktiv, erklärt Prof. Dr. Stefan Sell. Zahlreiche persönliche Vermittlungshemmnisse, beispielweise das äußere Erscheinungsbild oder Suchtverhalten seien statistisch auch mit PASS nicht zu erfassen. Die berechnete Zahl von mehr als 435.000 Personen sei daher als „Untergrenze der Grundgesamtheit für öffentlich geförderte Beschäftigung“ zu verstehen.
Soziale Teilhabe und Arbeitsmotivation
Neben der Größe des für öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen infrage kommenden Personenkreises untersuchten die Forscher auch den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und sozialer Teilhabe. Ihre Auswertung der PASS-Daten kommt zu dem Ergebnis, dass Beschäftigungslose sich weniger als Teil der Gesellschaft fühlen. Arbeitslosigkeit führe also zu einer wahrgenommenen gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dieses Gefühl werde zudem stärker, je länger die Menschen bereits ohne Arbeit sind.
Hinzu komme, dass Arbeit für Beschäftigungslose einen hohen Stellenwert einnehme. Der Aussage: „Arbeit zu haben ist das wichtigste im Leben“ stimmen sie sogar deutlich stärker zu als Beschäftigte, heißt es in der Studie. Von einer mangelnden Motivation, eine Arbeit aufzunehmen, könne also nicht gesprochen werden, so die Wissenschaftler. Vielmehr zeigten Beschäftigungslose sogar eine höhere Arbeitsmotivation als die erwerbstätige Bevölkerung. Und auch von einem Einrichten in der Arbeitslosigkeit könne keine Rede sein, denn „mit zunehmender Dauer der Beschäftigungslosigkeit nimmt die Arbeitsmotivation nicht ab, sondern bleibt auf hohem Niveau“.
Arbeitsmarktpolitik für Arbeitsmarktferne: Exklusion oder Inklusion?
Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbereitschaft und der gesellschaftlichen Exklusion, die die Arbeistmarktfernen erleben, ginge es bei der Diskussion um das Für und Wider eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors daher in erster Linie um die Frage, ob eine „teilhabeorientierte Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik“ gewünscht sei oder man den „harten Kern der Langzeitarbeitslosen im passiven Transferleistungsbezug auf Dauer stilllegen“ wolle, argumentieren die Wissenschaftler. Diese Frage sei auch deshalb von höchster Brisanz, weil in den Haushalten der arbeitsmarktfernen Personen über 300.000 Kinder leben, die von der Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern betroffen sind (O-Ton berichtete).
Weiterhin sei es unhaltbar, dass sich öffentlich geförderte Beschäftigung inzwischen nahezu ausschließlich auf die umgangssprachlichen „Ein-Euro-Jobs“ beschränke, die nur kurzfristige Beschäftigung der Betroffenen ermöglichen und zudem in ihrer Ausgestaltung nichts mit regulären Arbeitsplatzverhältnissen zu tun hätten. Nötig sei ein ganzes „Spektrum an ineinander greifenden Förderoptionen“, darunter auch, aber nicht nur die „Ein-Euro-Jobs“, sondern zusätzlich höherwertige sozialversicherungspflichtige und längerfristige Arbeitsverhältnisse als freiwilliges Angebot an die potentiellen Teilnehmer, erläutert Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik und Leiter der Studie.
Zum Weiterlesen:
Obermeier, Tim; Sell, Stefan und Tiedemann, Birte: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), abrufbar unter: www.hs-koblenz.de/isam